Saison 15/16 Der Revisor

„Wenn der Atem reinkommt“ – Interview mit Regisseur Jürgen Morche

Rinteln. Ein Theaterstück muss man sich am besten wie ein organisches Material vorstellen: Es lebt und es verändert sich. Und so haben einige Zuschauer, die sich das diesjährige Stück der Schaumburger Bühne mehrmals angeschaut haben, Regisseur Jürgen Morche mitgeteilt, dass es eigentlich zwei Versionen vom Revisor waren, die sie da auf den Brettern, die die Welt bedeuten, gesehen hätten.Morche stimmt zu: „Das Stück wächst.“

Dass ein Theaterstück von Aufführung zu Aufführung besser wird, weil die kleinen Fehler und Hänger, die zu Beginn noch auftreten, einer Routine und größerem Selbstvertrauen Applaus1-webgewichen sind, ist natürlich keine ganz neue Erfahrung, aber so meint Morche das auch nicht, wie er im Gespräch im Bückeburger Café Mavandus verdeutlicht. Das Ensemble spiele deutlich stärker zusammen als noch bei der Premiere, es sei flotter. „Der Atem kommt rein“, sagt Morche. „Die Pelle schält sich ab.“

Denn im Gegensatz zur herkömmlichen Theaterwelt, wo nach den Proben ein Standard erarbeitet wird, der dann gleichsam konserviert und vor der nächsten Aufführung nur noch erneut erreicht werden muss, geht Morche mit seinen Schauspielern einen Schritt weiter: An den Szenen wird zwischendurch weitergearbeitet, sie werden auseinandergenommen und Stück für Stück wieder zusammengesetzt, „wir forschen bei der Schaumburger Bühne stärker nach dem Detail“, sagt Morche, und das Ergebnis ist eine bessere Szene; es ist ein Prozess, den der Regisseur und seine Schauspielerriege durchaus spannend finden.

Der Revisor ist nicht nur ein Geniestreich der russischen Theaterszene, sondern auch eine bittere Farce über Charaktere, die sehr weit getrieben werden. Auf der Bühne stehen „extreme Menschen“, sagt der Regisseur, und es macht ihn und seine Schauspielerriege durchaus stolz, dass die Zuschauer ihnen noch immer folgen. In Kleinenbremen waren es vielleicht etwas weniger als in den Vorjahren, dafür waren in der Kreisstadt mehr Zuschauer, so gleicht sich alles aus.29

Das Stück selbst, sagt Morche, „ist ein echter Glücksfall“, weil Gogol es scheinbar direkt für die Schaumburger Bühne geschrieben hat. Sicher, sagt Morche, es gebe in der Weltliteratur genügend Stücke, „aber ich brauche eines für 17 Schauspieler, von denen mehr als die Hälfte Frauen sind“.

Und wenn man ein Stück gefunden hat, dann muss es eingeordnet werden: Hat der Inhalt den Menschen heute noch etwas zu sagen? Ist es noch aktuell? Kann man das Nochaktuelle und das Nichtmehraktuelle gegenüberstellen, sodass der Zuschauer seine eigenen Schlüsse zieht; dass er sagt, dieses und jenes haben wir überwunden?

Die Frage nach der Aktualität des Revisors stellt sich nicht. Das Stück ist 1836 erschienen und erzählt die Geschichte einer Verwechslung: Eine Kleinstadt gerät in Aufruhr, weil sie befürchtet, ein Staatsdiener aus St. Petersburg könnte die krummen Geschäfte in den Ämtern entdecken und melden. Und so will der Bürgermeister dem eingespielten Ritualen ein Ende setzen: Alle mal kurz herhören! Ein Revisor kommt inkognito in die Stadt! Schluss mit der Niedertracht in den Ämtern – ab sofort wird sich von der besten Seite gezeigt.

Es ist ein Stück, dessen Inhalt beim Zuschauer seit seiner Erstaufführung ein kleines Glöckchen der Selbsterkenntnis bimmeln lässt. Und es ist für einen Regisseur immer eine Herausforderung, denn auf der Bildebene schwankt eine Inszenierung stets zwischen Realismus und Surrealismus, im Spiel zwischen überzogener Groteske und Tragödie.

Doch im Gegensatz zu nahezu allen anderen Theaterstücken, in denen ein entstandener Konflikt aufgelöst wird, hinterlässt „Der Revisor“ seine Bühnengesellschaft in genau dem Zustand, in dem er sie zuerst vorgeführt hat: Die korrupten Honoratioren sehen sich unverändert der Bedrohung durch die Prüfung des allmächtigen Revisors ausgesetzt und sind keinen einzigen Schritt weiter und um einige hundert Rubel ärmer als zuvor: „Der Revisor“ verweigert sich der Auflösung der dramatischen Spannung. Und gerade aus dieser Verweigerung gewinnt der kolossale Schluss, auf den Gogol zurecht so stolz war, seine mächtige Kraft. (…)

Artikel: Frank Westermann
Quelle Schaumburger Zeitung 21.02.2016